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Lindgren-Gedanken zu Ronja,
der Räubertochter und ihren Brüdern und Schwestern
aus dem "Entschwundenen Land"

Zunächst Erinnerungen...

Es fängt an mit der kribbeligen Unruhe am Sonntagnachmittag um vierzehn Uhr. Mit der sehnsüchtig erwarteten Melodie, die Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv, ankündigt. Das Radio, dieses alte hölzerne Nachkriegsmodell als Übermittler einer abenteuerlichen, aufregenden Welt. Das ist so etwas wie geliehenes Leben, ein Stück kuschelige Flucht aus dem grauen Kinderalltag.

Astrid Lindgren – das sind auch die ersten Leseschritte im kleinen blauen Buch mit dem rothaarigen Mädchen vorne drauf. Mit den Ringelsocken und den Riesenlatschen. Der Traum von einem Mädchenleben.! Frei und wild! Die liebevolle und kreative Anarchie! Der Boden der Realität aber ganz in der Nähe. Thomas und Annika geht es ja nicht anders als den anderen Kindern – als mir und dir – nur haben sie das unverschämte Glück direkter teilhaben zu können an dieser Welt, in der Kinder leben können, wie sie wollen und sollen. Ein Leben in Freiheit! Sehnsüchte – aber auch Trost und ein bisschen Hoffnung, dass es auch mal so werden könnte.

Vielleicht! Später!

Das war neunzehnhundertsechsundfünfzig. Und der Alltag grau und eng. Katholisch, bürgerlich eingestylt und festgelegt. Da waren Gedanken, wie Astrid Lindgren sie aussprach, noch Utopie in deutschen Kinderherzen und –leben:

„Freiheit! Denn ohne Freiheit welkt die Blume der Poesie, wo immer sie auch blühen mag!“

Freiheit – ist die eine Seite, Poesie die andere. Das „liebende Herz“ aus dem „entschwundenen Land“ der Kindheit Astrid Lindgrens, das Lebensmotto des Vaters „Was wäre die Welt ohne Liebe?“ lebt in Madita, in Michel, in Lotta, Bosse, Lasse, Ole in Birk, Ronja und all den anderen fort und setzt Kinderseelen der ganzen Welt in Schwingungen. Im Leben dieser Kinder gibt es die ganze weite Erlebnistiefe der menschlichen Gefühlswelt. Ungemein heiteres-humoriges, witzig-freches, spannend-gruseliges, da wird Natur erlebbar in Geräuschen und Gerüchen, die Schönheit der schwedischen Landschaft in ihrer Farbenpracht vorstellbar durch alle Jahreszeiten hindurch, bei Sonne und Schnee, bei Regen, Gewitter und Sturm.

Da gibt es aber auch Trauriges, Schmerzvolles. Wenn es um Krankheit und Tod geht. Aber auch hier lebt das fort, was Astrid Lindgren einmal über ihren Vater schreibt: „Er hatte ein wunderliches Vertrauen in das Leben, eine Lebensfreude und eine tröstliche Gewissheit eines künftigen Lebens“ Dieses ungebrochene Urvertrauen in das leben, die unendliche Kraft, die einen auch in schmerzlichen Lebenssituationen nicht verlässt, wird am deutlichsten in einer der traurigsten Stellen. Einer Traurigkeit, die sich aber auf wunderbare Weise verwandeln lässt, an Schwere verliert und den Schmerz erträglicher macht. Bereits zu Beginn des Buches „Die Brüder Löwenherz“ weiß Karl Löwe, genannt Krümel, dass er bald sterben wird. In seiner tiefen Verzweiflung findet er Trost in dem Gespräch, das er mit seinem Bruder Jonathan führt.
 „Wie kann es nur so was Schreckliches geben?“ fragte ich. „Wie kann es so etwas Schreckliches geben, dass manche sterben müssen, wenn sie noch nicht mal zehn Jahre alt sind?“ „Weißt du Krümel, ich glaube nicht, dass es so schrecklich ist,“ sagt Jonathan. „Ich glaube, es wird herrlich für dich.“ „Herrlich?“ sagte ich. „Tot in der Erde liegen, das soll herrlich sein!?“ „Aber geh“, sagte Jonathan. „Was da liegt, ist doch nur so etwas wie eine Schale von dir. Du selber fliegst ganz woanders hin.“ „Wohin denn?“ fragte ich, denn ich konnte ihm nicht recht glauben. „Nach Nangijala“, antwortete er. Nach Nangijala – das sagte er so einfach, als wüsste das jeder Mensch. Aber ich hatte noch nie etwas davon gehört. „Nangijala“, sagte ich, „wo liegt denn das?“ Da sagte Jonathan, das wisse er auch nicht genau. Es liege irgendwo hinter den Sternen. Und er fing an von Nangijala zu erzählen, sodass man fast Lust bekam auf der Stelle hinzufliegen.“

Astrid Lindgren sagt es immer und immer wieder: Ihre Kindheit war glücklich. Und diese glückliche Kindheit muss sie immer und immer wieder neu beseelen in neuen Kindergestalten. Nun heißt „glücklich“ nicht „heile Welt“, in der sich nichts bewegt, weil alle nur in reinem Glück schwelgen. Glück heißt bei Astrid Lindgren wohl gerade das Gegenteil. Die unerschöpfliche Kraft zu haben, sich immer wieder neue glückliche Momente schaffen zu wollen, weil man gelernt hat, auch Leid zu ertragen. Dass dies nur möglich ist, wenn die Kindheit in Geborgenheit und Vertrauen geschieht, hat Astrid Lindgren deshalb immer wieder betonen können, weil sie es erfahren hat. Das „Reiß dich zusammen und mach weiter!“ Dieser Satz der Mutter hat ihr die lebensnotwendige Grundlage zur Überwindung schwieriger Situationen geschaffen. Und dies kann Astrid Lindgren nun auch all ihren Buchkindern mit auf den Weg geben. Und sie schaffen es alle, keiner bleibt auf der Strecke, auch wenn der Weg zum Ziel oft steinig und hart, schmerzhaft und leidvoll ist. Wollte ich dies alles meinen Kindern mit auf den Weg geben?  Die Möglichkeiten mit der Welt fertig zu werden, dieser Realität, die hier in Dortmund so ganz anders ist als zur Kinderzeit Astrid Lindgrens auf Småland? Ein Bisschen davon hat sich unbewusst sicher eingeschlichen. Der Wunsch, die Welt der Kinder möge ein wenig so sein können wie im kleinen roten Haus auf der Apfelwiese, dem Geburtshaus von Astrid Lindgren. Aber vor allem der Wunsch nach innerer Kraft und Ausgeglichenheit. Deshalb, aber das wird mir so ganz klar erst beim Schreiben dieser Zeilen, tragen meine Kinder Namen aus Astrid Lindgrens Büchern. Und hätte ich noch mehr Söhne und Töchter, sie alle fänden einen Namen in Büllerbü, in Katthult, in Saltkrokant oder irgendwo anders dort. Lange Zeit war Pippi die Größte von allen. Sie hat mich begleitet durch meine Kindheit und den Wunsch wach gehalten, ich möge so sein können wie sie. Unabhängig und frei. Stark und voll unbändiger Lebensenergie. Später habe ich mir eine rothaarige Tochter gewünscht. Und sie auch bekommen. Aber ich habe sie dann doch nicht Pippi genannt, weil mir klar war, eine Tochter zu haben wie Pipi Langstrumpf, das geht nun doch nicht. Das geht nur in Büchern. Meine zweite Tochter war schon geboren, da kam Ronja, die Räubertochter, in einer Donner grollenden Gewitternacht auf die Welt. Und diese Ronja ist für mich nun die weise, abgeklärte Ausgabe der spontanen, an den Regeln der Realität spielerisch vorbeischlendernden Pipi. Und ein bisschen so werden wie Ronja, das wünsche ich allen Töchtern (und wie Birk allen Söhnen). Es sind keine ungewöhnlichen Fähigkeiten, über die sie verfügen kann, wie das bei Pipi noch der Fall ist. Es sind eher die ganz natürlichen, ureigenen Fähigkeiten des Menschen, bloß gelingt es leider nicht allen, sie so leben zu können. Astrid Lindgren hat es immer wieder gesagt: Die Ursache für ihre eigene glückliche Kindheit lag darin, dass sie „Geborgenheit und Freiheit“ in Fülle genießen konnte. Und dies  ist auch für Ronja die Quelle ihrer Lebensenergie. Sie verlässt das warme Nest, die Räuberhöhle, geht den Weg, den sie gehen muss, weil sie ihn gehen will, befreit sich in schmerzhaftem Ablösungsprozess von ihren Eltern, besonders von ihrem Vater, findet eigene Lebensziele und –ideale, die die alte Identität in Frage stellt, das schmarotzerhafte Rauberleben in Frage stellen, bekennt sich zu Birk, obwohl auch das dem Vater missfällt und bleibt auch in der Freundschaft zu ihm das, was sie ist, ein aufrichtig liebender Mensch, der seine Identität niemals leugnen wird zu Gunsten eines anderen. Ronja kann sich fallen lassen in allen Schichten ihrer Gefühlswelt, sie kann aber auch wiederum auftauchen und den täglichen Kampf mit Menschen, Tieren und Naturgewalten wieder aufnehmen. Und das gelingt ihr, weil sie früh eine wichtige Grundregel fürs Überleben gelernt hat: „am sichersten ist man, wenn man sich nicht fürchtet.“ Diese Furchtlosigkeit hat sie sich hart erarbeitet. Ronja stellt sich ihr täglich neu und lernt, sie zu besiegen.

Diese Kraft wünsche ich allen Kindern. Aber auch den Lebensraum, aus dem sie die Kraft schöpfen können. Die unendliche Weite der Natur, wie sie Ronja, Birk und all die anderen noch vorfinden. Schlüsselblumenwiesen, Blaubeerplätze, Seerosenweiher, Baumhöhlen, Schneegestöber, Frühlingswinde, Sonnenaufgänge...

In Astrid Lindgrens Büchern gibt es das alles noch. In ihrem eigenen Land aber auch nicht mehr so, wie sie diese Schauplätze aus der Erinnerung an ihre eigene Kindheit heraus, immer wieder beschrieben hat. Aber so wie ihre kleinen Helden nicht zugucken und über ihr Schicksal lamentieren, sondern zupacken, sich stellen, kämpfte Astrid Lindgren auch. Zwar nicht gegen Drachen und Bösewichter, sondern alte Gesetze für neue, bessere, die verhindern, dass über Natur irgendwann nur noch in Büchern nachzulesen ist. Und: Das Tröstliche, das, was andere ermutigen könnte, sich anzuschließen, sie setzte sich durch. Zum Beispiel, wenn es um den Erhalt eines Biotops geht oder um die Verbesserung der Tierhaltung. Hühner in Legebatterien gibt es dank Astrid Lindgren in Schweden nicht mehr.

Es gäbe noch vieles zu sagen zu Astrid Lindgren, zu ihren Büchern, zu ihren Helden,

Obwohl man eigentlich gar nichts über sie sagen müsste. Man braucht sie nur zu lesen.

Man spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht.
Mein Gott, was hilft aber alles Licht,
wenn die Leute entweder keine Augen haben
oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?
G.Chr. Lichtenberg


 
ES IST WIE ES IST !
HOMMAGE AN UNERREICHBARE !?

Die Feminisierung der Kinder- und Jugendliteratur

I. Vorbemerkung

Am 14.Januar erreichte mich ein Anruf auf meiner geheimen Handy-Nummer. Ich hatte mich gerade mal  wieder für zwei Wochen in die Einöde begeben, um ein Buch zu beenden. Dort bin ich eigentlich für niemanden erreichbar. Aber irgendwie hat Frau  Dankert es geschafft, meiner Tochter die geheime Nummer zu entlocken.

Der Anruf mit der Frage nach einem Referat kam überraschend, und Zeit für lange Überlegungen hatte ich nicht. Ich quälte mich gerade im Kapitel 8 meines Buches mit dem Tod einer Großmutter. Vielleicht hätte ich Nein sagen sollen. 

Seit sechs Jahren habe ich schließlich nichts anders getan, als durch die Lande zu reisen, um zu recherchieren, zu lesen und in der Einöde zu schreiben. Aber vielleicht war es dann gerade diese Konzentration auf nur drei Bereiche der beruflichen Auseinandersetzung, die mich herausgefordert hat, ja zu sagen.

Für Abwägungen blieb keine Zeit, die Antwort „jetzt sofort“ - und das zwischen der sterbenden Großmutter und der schlechten Funkverbindung.

Es gelang mir gerade noch -  bevor das Gespräch  wieder einmal hinter verzerrten  Schallwellen verschwand oder von unsichtbarer Hand abgeschnitten wurde,  die Formulierung des Themas zu verändern:

Aus dem Vorschlag  der Vorbereitungsgruppe für dieses Symposion „Weil  Männer nicht lesen?“ wünschte ich mir das, was Sie nun hören werden:

„Es ist wie es ist.

Weibliche Hommage an Unerreichbare!?“

Den Zusammenhang zu meinen Ausführungen überlasse ich jetzt Ihrer Phantasie.

Das, was ich Ihnen jetzt anbieten kann und will, ist keine differenzierte soziologische Studie, ist keine Übersicht über den Markt, keine Interpretation  vorliegender Produkte, sondern sind Gedanken zum Thema aus der Sicht der Autorin, auf dem Hintergrund der eigenen Biographie, der gesellschaftlichen Grundlagen , der kritischen Auseinandersetzung mit dem Feminismus und meiner Vorliebe für tiefenpsychologische Phänomene.

Ich schlage folgende differenzierte Formulierung vor:

Die Feminisierung der Kinder- und Jugendliteratur - hier:

die Suche nach dem androgynen Wesen - oder : die androgyne Evolution.               


II. Bestandsaufnahme

Betrachte ich die Menschen, mit denen ich in meinem beruflichen Leben täglich konfrontiert bin, so ist eine Feminisierung unübersehbar. Meine Kontakte, ob per Telefon oder live, laufen  über Frauen. Ich arbeite ausschließlich mit Lektorinnen, bei meinen Lesungen treffe ich auf Bibliothekarinnen, Buchhändlerinnen, Lehrerinnen, Erzieherinnen, die meisten Rezensionen werden von Frauen geschrieben. Die Fanpost zeigt mir, dass vor allem Mädchen zu lesen scheinen.

Mit Männern bin ich nicht direkt konfrontiert, sie tauchen in den leitenden Positionen auf, als Verlagsleiter, Schulleiter...

Das Warum ist nahe liegend: die Beschäftigung mit Kindern und Jugendlichen im weitesten Sinne war - und ist immer noch - Frauensache. Das Kinder- und Jugendbuch an den Universitäten führt nach wie vor ein Schattendasein. Kinder- und Jugendliteratur gilt als pädagogische Übung, nicht aber als ernstzunehmende Literatur.

Vielleicht liegt eine wesentliche Ursache für diese Feminisierung auch darin, dass Männer mehr Probleme mit dem Zulassen und Ausdrücken von Gefühlen haben.

Tabori geht sogar noch weiter, er sagt, die Deutschen haben insgesamt Probleme mit den Gefühlen. Seine ganze Theaterarbeit ist davon geprägt, dieses Manko zu konterkarieren.

Wer sich aber mit der Welt der Kinder auseinandersetzt, dieser spontanen, emotionalen, unverfälschten Welt, der kommt nicht daran vorbei, sich auch über die eigenen Gefühle Gedanken zu machen, die die Texte der Kinder- und Jugendliteratur provozieren.

 
III. Die Veränderung der Identitäten!?

In meinen eigenen Texten - und nur von ihnen und ihrer gesellschaftlichen Einbettung kann ich reden - spiegeln sich die neuen Denkweisen der seit den 60er Jahren diskutierten neuen Identitäten von Mann und Frau. Diese neue Sicht ist in meine Bücher, die ich seit sechs Jahren schreibe, nicht als Programm eingebaut. sie sind spontaner, intuitiver Ausdruck meines Weltbildes, mein liebevoller Blick auf das Leben, seine Menschen und Gefühle.

Erst nach dem Anruf von Frau Dankert fiel mir wieder das Buch der französischen Philosophin Elisabeth Badinter ein, das ich 1988 gelesen hatte - und das mir heute wieder meine Denkweise theoretisch zu untermauern scheint.

Sie spricht von der „androgynen Revolution“ - ich halte das eher für eine Evolution, stimme aber in vielem mit ihr überein.

 In ihrem Buch „Ich bin Du“ heißt es:

„ In den westlichen Gesellschaften lehnt man es heute ab, der Anatomie einen entscheidenden Einfluss auf das Schicksal der Menschen einzuräumen, und man betont wie nie zuvor die Ähnlichkeit zwischen den Geschlechtern. Man hat die Phänomene des Lebens immer besser im Griff, man trennt die sozialen Rollen und Funktionen von ihren physiologischen Wurzeln, man wird sich schließlich einer physischen und psychischen Bisexualität bewusst und reduziert die Andersheit der Geschlechter auf das Allernötigste. Der einzige Unterschied der übrigbleibt, besteht zur Zeit darin, dass es die Frauen sind, die die Kinder der Männer austragen. (...) Die Frauen haben ihre Fruchtbarkeit unter Kontrolle gebracht und verfügen fast ausschließlich über die Zeugungsmacht, geben aber gleichzeitig zu verstehen, dass sie ihr Schicksal nicht mehr von der Mutterschaft her definieren. Der Einfluss der Natur geht zurück, und damit wird der Unterschied, der die Geschlechter voneinander trennt, geringer.“(S.187)

Was Badinter weniger thematisiert, ich aber für wichtig halte, sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die diesem Prozess zugrunde liegen. Immer mehr Frauen  sind berufstätig. die Arbeitsweise hat sich grundlegend geändert - kaum mehr ein Beruf, in dem es auf Muskelkraft oder ausschließlich manuelle Geschicklichkeit ankommt.

Elisabeth Badinter beschreibt die Folgen:

„Seit Beginn der 70er Jahre verwischt sich in den meisten westlichen Gesellschaften nach und nach die Grenze zwischen dem Bereich der Mütterlichkeit und dem der Väterlichkeit. Die Männer beginnen unmittelbar zu erfahren, was es heißt, ein Kind zu haben und für das Kind all das zu tun, was Frauen seit jeher getan haben. Mit der neuen Väterlichkeit bekunden sie ihr ‘nährendes Selbst’ und eine Weiblichkeit, von der sie vielfach nicht einmal wussten, dass sie in ihnen steckte.“ (S.197)

„In Wirklichkeit sind wir alle Androgyne, weil die Menschen in mehrfacher Hinsicht und in unterschiedlichem Ausmaß zweigeschlechtlich sind. In jedem von uns sind Männliches und Weibliches ineinander verflochten, auch wenn die meisten Kulturen uns lieber als ausschließlich einem Geschlecht zugehörig beschrieben haben. Als Norm galten der Unterschied und der Gegensatz. Die Erziehung hat dafür zu sorgen, dass Zweifel zum Schweigen gebracht werden und dass man lernt, den anderen Teil seines Selbst zu vermeiden.“ (S.207)

Die neue Entwicklung wird von Männern und Frauen unterschiedlich aufgegriffen.

„Allem Anschein nach kommen die Frauen  mit ihrer Bisexualität besser zurecht als Männer“, schreibt Badinter und formuliert Thesen zur Begründung: „Da sie ihrer Weiblichkeit  sicher sind, nutzen und manifestieren sie ihren männlichen Anteil ohne zu zögern. Während sie in verschiedenen Lebensabschnitten und zu verschiedenen Tageszeiten männliche und weibliche Rollen zwanglos aufeinander folgen lassen, haben sie nicht das Gefühl, dass ihre Bisexualität eine Gefahr für ihre weibliche Identität darstellt, im Gegenteil, sie empfinden die Andersheit als Bedingung eines erfüllteren Daseins, das weniger von vornherein determiniert ist. Alles in allem scheinen die Frauen mit ihrer neuen Situation zufrieden zu sein, und ihnen gefällt die Vorstellung ‘Zwillingsschwestern’ der Männer zu sein. (...) 

Das androgyne Modell, auf das wir zusteuern, erspart es uns nicht, dass jeder von uns - und besonders die Männer - ein sicheres Gefühl seiner geschlechtlichen Eigenart entwickeln muss. Erst wenn sie dieses Gefühl entwickelt haben, können Männer und Frauen gemeinsam weitergehen.“ (S.215ff)

„Das Hervortreten unserer androgynen Natur steigert unsere Ansprüche und Wünsche.“ heißt es weiter. „Wir wollen alles, weil wir uns selbst als eine Totalität an sich empfinden, wir haben das mehr oder weniger deutliche Gefühl, ein exemplarischer Vertreter der gesamten Menschheit zu sein, ein Surrogat der göttlichen Totalität. (...)

Die Ziele haben sich grundlegend geändert: Man denkt nur noch daran, seine Lebenszeit optimal auszunutzen und alle Fähigkeiten ins Spiel zu bringen. Wer einige seiner Möglichkeiten brachliegen lässt, begeht ein unverzeihliches Verbrechen gegen den neuen Kapitalismus des Ichs. Die Eltern, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, bemühen sich beinahe zwanghaft um Erfahrungen für ihre Kinder. Man lässt sie alles probieren, in der Hoffnung, einige Talente bei ihnen zutage zu fördern, die sich als Pluspunkte für ihr Ich erweisen könnten. So eilen manche Kinder von der Judoveranstaltung zum Tanzkurs, von der Töpferwerkstatt  zum Musikunterricht, obwohl sie lieber zuhause blieben und nichts täten. (...)“ (S.237)

„Das alles wirkt sich unmittelbar darauf aus, wie wir lieben. Die aufopfernde Liebe, die lange als Inbegriff der Liebe galt, weist gewichtige Einschränkungen auf. Früher war die Mutterschaft durch Hingabe und Opfer bestimmt. Man brachte Kinder zur Welt, um Gott zu gehorchen, um seinem Ehemann Nachkommen zu schenken und seiner fraulichen Bestimmung zu genügen. So versteht man die Mutterschaft in unserer Gesellschaft heute nicht mehr. Wenn man ein Kind bekommt, so vor allem, um sich einen persönlichen Wunsch zu erfüllen. Man zeugt in erster Linie für sich selbst, um das eigene Ich zu befriedigen und zu bereichern. Man muss, wenn man ehrlich ist, zugeben, dass der Kinderwunsch zutiefst egoistisch und narzisstisch ist. (...)“ (S.240)

Den Zwiespalt des neuen Leitbilds der Androgynität fasst Badinter so zusammen:

„Das neue Leitbild, das vor unseren Augen entsteht, ist aus mehr als einem Grund beängstigend. Akteure einer Revolution, die sich gerade erst abzeichnet, haben wir unsere alten Anhaltspunkte verloren, ohne neuer Anhaltspunkte sicher zu sein. Von unseren Wurzeln, die noch zur alten Welt gehören, getrennt, werden wir rasch von dem ungeheuren Kulturwechsel, den wir selbst angestoßen haben, erfasst. Er löst widersprüchliche Empfindungen aus. Es geht uns zu schnell und gleichzeitig zu langsam; wir möchten mit der alten Kultur brechen und fürchten doch die neue; schließlich wissen wir nicht mehr, wer wir sind, und erkennen nicht deutlich, wer wir sein wollen.“ (S.190)


IV. Spurensuche

Ich war bei der Analyse meiner Texte selbst überrascht festzustellen, dass sie sich vom Kerngedanken her mühelos in Badinters Weltbild einzufügen scheinen.

Erste Hinweise auf die androgyne Thematik in meinen Büchern bekam ich schon vor Jahren von Hochschullehrern, die ihre Studenten beauftragt hatten, zu untersuchen, ob es sich bei meinen Protagonisten um männliche oder weibliche Wesen handele.

Die Texte wurden ohne den entlarvenden Namen präsentiert. Das Ergebnis bestätigt  die Androgynität der Figuren.

50 Prozent der Studentinnen und Studenten waren der Meinung, es handle sich um ein weibliches Wesen, 50 Prozent vermuteten das Gegenteil. Ganz gleich, ob es sich um Johanna und Franziska in „Amor kam in Leinenschuhen“, um Leander in „Leanders Traum“, um Amadeo Falkenstein  im „Traumtänzer“ handelt. Meine Hauptfiguren sind von ihrem Rollenverhalten her nicht exakt festlegbar.

Meine Mädchen sind nicht die „starken Mädchen“  der Kinder- und Jugendliteratur der 70er Jahre. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie trotz ihrer Stärke auch schwach sein dürfen. Sie sind  auf dem Weg, autonome Persönlichkeiten zu werden mit all den Ängsten, Zweifeln, Problemen und Nöten, die jeder Mensch hat.

Die Jungen in meinen Geschichten sind stark, wenn sie schwach sein dürfen.

Meine Protagonisten suchen die Totalität - „sie wollen alles“!. Das schließt die persönliche Ebene, die Gefühlsebene, aber auch die gesellschaftliche Ebene ein. Sie hören nicht auf, zu suchen, Fragen zu stellen, auf dem Weg zu ihrer eigenen Autonomie.

Ganz gleich, welche verwundbare Lindenblattstelle ihr Leben begleitet, sie sind - auch wenn es oftmals eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod ist - Wesen, die nicht aufgeben, die sich durchs Leben kämpfen.

Und das ist bei Mädchen und Jungen gleich. Die Mädchen verlassen sich nicht auf den Traumprinzen, der sie erlösen soll. Sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand. Mit Mut und Zuversicht. Die Jungen sind nicht aufgrund ihrer Geschlechtsidentität die starken Kerle, die das Leben problemlos wie in der Marlboro-Werbung  durchreiten.  Sie erweisen  sich da als stark, wo sie  eher „weibliche“ Qualitäten entwickeln: Fürsorglichkeit beim Babysitten, Feinfühligkeit beim Umgang mit Freunden, Spaß am Kochen und Nähen.

Auch manche Eltern meiner Protagonisten zeigen androgyne Züge.

Das beschränkt sich bei einigen zunächst auf äußere Merkmale. In der „Tuchfühlung“ ist Zeno Zimmermanns Vater zwar alleinerziehend,  aber er entwickelt seine weiblichen Anteile nur minimal. Er bleibt der Geschäftsmann, der auch in Bezug auf seinen Sohn auf Leistung und Erfolg starrt  und von ihm die Attribute der Männlichkeit einfordert.

Der Vater von Amadeo Falkenstein im „Traumtänzer“, engagierter Galerist und ebenfalls alleinerziehend, hat ausgeprägtere weibliche Anteile. „Ich hab meine Mutter nie vermisst“, meint Amadeo an einer Stelle, um auszudrücken, daß ihm sein Vater die Zuwendung und Zärtlichkeit einer „klassischen „ Mutter geben konnte. 

In den „Vollkornsocken“ haben Beeke-Luises Ersatzväter diese androgynen Eigenschaften bereits sehr weit entwickelt, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Facetten. Da ist der nach Motoröl und Rasierwasser duftende Motorradfreak Bodo, der die Versorgung Beeke-Luises mit gleicher Selbstverständlichkeit wahrnimmt, wie er aufmerksamer Zuhörer und Helfer in allen Nöten ist.  Der strickende Felix  ist in seiner esoterischen Weltflucht ohnehin das Gegenbild des Macho.

In „Leanders Traum“ ist ein Junge auf der Suche nach einem Vater. Die Vorbilder sind für ihn eindeutig männlich. Ein Vater wird gesucht, der Fahrräder repariert, bei den Mathematik-Hausaufgaben hilft, ihm das Schwimmen beibringt... Am Ende findet er - beziehungsweise hat seine Mutter gefunden - genau den Menschen, den er gesucht hat . Doch dieser Mensch ist eine Frau: Daisy.
Ich setze Androgynität nicht gleich mit Bisexualität in geschlechtlichem Sinne. Bei Franziska und Johanna im „Amor...“ bleibt offen, ob sie lebenslänglich Frauen lieben werden. Klara im „Nordseedschungel“ erlebt Sexualität mit Männern, verliebt sich aber in eine Frau...

Für mich geht es darum, dass sich meine Protagonisten männliche und weibliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen bewusst zu eigen machen - oder sie auch zurückweisen - ganz unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung. 

 
Ich denke, dass diese Beispiele ausreichen, um deutlich zu machen, dass die Frage der Androgynität  wie ein roter Faden meine Bücher durchzieht. Es wäre sicher eine spannende Aufgabe, dies einmal systematischer wissenschaftlich zu analysieren. Aber das überlasse ich anderen.

 Erst vor ein paar Tagen bekam ich meine These erneut bestätigt.  In einem  Buch für Erstleser mit fünf abgeschlossenen Geschichten, fand die Lektorin die Zahl der Jungen überrepräsentiert. Zu unserer beiderseitigen Überraschung reichte es völlig, aus Jonas Marie und aus Daniel Eva zu machen - die Figuren stimmten immer noch.

Bei einem Bilderbuchtext, der gerade illustriert wird, zeigte sich das gleiche Phänomen: Ich war davon ausgegangen, dass es sich bei meinen Hauptfiguren um zwei Mädchen handelt. Der Illustratorin fiel auf, dass es keinen Anhaltspunkt dafür gibt und sie wird es nun in ihren Bildern bis zum Schluss offen lassen.


Die Wurzel für diese, meine besondere Sicht der Geschlechter liegt, wie wahrscheinlich bei allen anderen Autoren auch, in der ganz persönlichen Biografie und ihrer gesellschaftlichen Einbettung.

Ich bin aufgewachsen in der Enge der 50er Jahre, katholisch-bürgerlich. Im Internat einer Klosterschule wurden wir jeden Samstagnachmittag zwei Stunden lang mit unserer zukünftigen Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter konfrontiert - in ganz speziellen Lehrstunden. Der angerichtete Schaden hielt sich bei mir in Grenzen.

Da waren vor allem die Vorbilder in meiner Familie. Meine Mutter, zum Beispiel, war in den 20er und 30er Jahren eine ungewöhnliche Frau. Vielleicht hätte sie unter anderen Bedingungen zu den Frauen der Left Bank in Paris gepasst. Sie war autonom, selbstbewusst, kleidete sich extravagant, trug Hosen aus Samt und Seide und dazu Lederwesten. War eine der ersten Frauen in Dortmund, die einen Führerschein besaßen und die einzige Frau  in einem Segelflugsportverein und bewährte sich bei waghalsigen Skitouren. Sie leitete die Fabrik ihres Vaters, nahm durchaus persönliche Nachteile in Kauf,  wenn es darum ging, sich Anweisungen der Hitlerfaschisten zu widersetzen.

 Ich erlebte als Kind meine Mutter als starke, beruflich engagierte Frau - allerdings unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen um den Preis der  weitgehenden Verneinung ihrer weiblich-mütterlichen Anteile. Ich kam ins Internat, fühlte mich oftmals abgeschoben...

In meinen Büchern versuche ich sicherlich, diesem Entweder - Oder zu entkommen und positive Gegenbilder bei Männern wie Frauen, Jungen wie Mädchen zu skizzieren. 

Ich wollte Hosen!

Im Internat waren Kleider und Schürzen angesagt. Fünf Jahre lang musste ich mich in diese Uniform zwingen. Als ich das Internat 1962 mit 15 Jahren verließ, verabschiedete ich mich endgültig von Kleidern und Röcken.

Hosen bei Frauen und Mädchen sind uns so selbstverständlich geworden, dass sie kaum mehr als Zeichen der Androgynität angesehen werden können.

Was schon in Vergessenheit geraten ist: bis in die 70er Jahre waren Frauen, die Hosen trugen, noch ein Provokation. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel ist der Skandal vom 15.April 1970: An diesem Tag missachtete die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer das offizielle Hosenverbot für Frauen im Parlament. Sie löste einen unbeschreiblichen Tumult aus, der es sogar wert war, in den Abendnachrichten im Fernsehen gesendet zu werden.

Mein ganz persönliches Ideal als Kind war vielleicht Pippi Langstrumpf. Für mich in meiner engen Nachkriegskindheit war sie der Inbegriff von intensiven Lebensgefühlen, von Freiheit, Autonomie  - Engagement für andere - durchaus mit einem Schuss Anarchie. Ich hätte gerne das Leben von Pippi Langstrumpf gelebt. Fasziniert haben mich später dann die sogenannten „großen Frauen“, die ihrer Zeit voraus waren (Rahel Varnhagen, George Sand, es gibt unzählige andere) Sie waren Vorreiterinnen für eine Lebensweise, die auch heute noch  nur wenige zu verwirklichen schaffen: eigenständig, unabhängig, engagiert, eigenwillig, aktiv, provokativ...

Manche Entwicklungen verlaufen langsam. Manche schneller als wir es wahrnehmen. Was vor 15 Jahren noch undenkbar war, erscheint heute selbstverständlich. Das erste Manuskript, das ich vor etwa 14 Jahren schrieb und einigen Verlagen anbot, wurde nie veröffentlicht.

Es ging um die Geschichte einer Mutter, die ihre Familie verlässt. Der Vater übernimmt ihre Rolle in der Versorgung der zwei  Kinder. Das ältere Kind,  in meiner Geschichte etwa zehn Jahre alt, hat den Wunsch, bei der Mutter zu leben. Sie versucht es, stellt aber fest, dass im Leben der Mutter nicht genug Platz für sie ist. Sie kehrt zum Vater zurück.

Diese Geschichte wäre heute nicht mehr spektakulär. Sie ist längst gesellschaftlich - wenn auch nicht ein Normal-, so doch durchaus auch kein Ausnahmefall mehr.

Die Absagen damals aber bezogen sich auf die moralische Verpflichtung der Mutter. Die rechte Seite erklärte mir, dass eine Mutter eben nicht ihre Familie verlassen dürfe. Die linke und/oder feministische Seite monierte, dass das Bild des Vaters zu positiv sei. Eine Mutter, die ihre Familie verlässt, ist negativ. Das schade dem Image der Frauenbewegung.

Wenn ich in meinen Büchern neue Familienmodelle produziere, dann nicht, um für die Beliebigkeit menschlicher Beziehungen  zu werben.  Solche neuen Familienmodelle existieren in der Realität, nicht zuletzt, weil Frauen heute - bei aller nach wie vor existierenden Beschränkung - die materiellen Möglichkeiten zur eigenständigen Existenz haben.  Die  damit einher gehende größere Freiheit, mindert nicht die Verantwortung. Für mich gilt immer noch das Postulat des kleinen Prinzen für die zwischenmenschlichen Beziehungen: „Ich bin für meine Rose verantwortlich.“

 

Mein Anliegen ist es, die gesellschaftlichen Veränderungen in diesem Bereich samt ihren damit verbundenen schmerzlichen Prozessen für alle Beteiligten aufzuzeichnen. Die Mütter, die sich in meinen Büchern von der Familie trennen oder neben ihrer Mutterrolle auch ein eigenständiges Leben zu leben versuchen, tun dies in hoher Verantwortlichkeit für ihre Kinder. Mit dem ständigen Gefühl von Unzulänglichkeit, Überforderung, und einem schlechten Gewissen. Das ist der Preis, den die neue Totalität fordert. Die Entwicklung zur Androgynität impliziert die ständige Suche nach Balance, die Beziehungen werden schwieriger, Happyends sind die Ausnahme.

Der „Kapitalismus des Ich“, von dem Badinter spricht, lässt auch die Kinder leiden. Aber in meinen Büchern, die das thematisieren, behalte ich den „liebevollen Blick“, d.h. über Zuwendung und Selbstverständigung , unterschiedliche soziale Bezüge - die die traditionelle Familie sprengen und erweitern , über solche Netze wird der individuelle Schmerz über einen Mangel in dieser engsten Mutter-Kind-Beziehung ertragbar gemacht.

Eine Bestätigung meines selbst schon verinnerlichten androgynen Blicks waren  für mich die Rezensionen an meinem Buch „Tuchfühlung“. Nicht nur professionelle Kritiker bescheinigten mir einen authentischen Blick auf die Innenwelt des schwulen Helden. Eine ganze Reihe schwuler Leser - jüngerer, wie älterer - bemerkte durchaus mit Erstaunen, dass eine Frau „ihre“ Geschichte aufzuschreiben in der Lage war.

V. Und wie sieht unsere Wirklichkeit aus?

Die von mir beschriebenen neuen Leitbilder stoßen allerdings auf Widerstand.

So werden meine Jugendbücher mit dieser Thematik von der Kritik durchaus mit Wohlwollen bedacht. Zu Lesungen werde ich aber vorwiegend mit meinen Kinderbüchern eingeladen

Sind wir auf dem Weg, den gerade erst begonnenen Fortschritt wieder zu verlassen und uns der alten Leitbilder zu erinnern? Wenn das so ist, dann liegen die Ursachen gewiss in der massiven Veränderung der gesellschaftlichen Entwicklung. Vielleicht sehen  Politiker in der bedrohlichen Zahl der Arbeitslosen das Ausscheiden der Frau aus dem Berufsleben als Lösung an?

Der ganz alltägliche Alltag bietet mir folgendes Bild von Mann und Frau heute:

In dem Auto, das neben mir an der Ampel wartet, sitzen zwei junge Männer, die langen Haare zu Zöpfen gebunden,  Ringe im Ohr.  Im Kaufhaus neben mir an der Kasse zwei junge Frauen mit burschikosem Kurzhaarschnitt, die erst bei genauerem Hinsehen überhaupt als Frauen  erkennbar sind und die sich bewegen und aussehen, als hätten sie gerade einen Kurs in Cross-Dressing absolviert.

Sind das bereits ernstzunehmende Indizien für eine vollzogene Wendung zur Androgynität?

Was mir an diesem Tag noch begegnet, spricht eher dagegen.

Der Einkauf im Supermarkt: ein einziger Mann, der in der Lebensmittelabteilung seinen Einkaufswagen schiebt - ansonsten Frauen mit quengelnden Kleinkindern. Hinter Wurst- und Käsetheken,  an der Kasse: ausschließlich Frauen: schlecht bezahlt, in Teilzeitarbeit, „Zusatz“- verdienerinnen, deren Einkommen für eine eigenständige Existenz nie ausreichen würde.

Auf meinem Heimweg, vorbei an Grundschule und Kindergarten: hier warten nahezu ausnahmslos die Mütter auf ihre Kinder.

Auf den riesigen Plakatwänden wird eine nackte Frau auf einem Teller serviert. Rossini - die Frage, wer mit wem schlief... Kann das tatsächlich so gemeint sein? Die Nachmittagsvorstellung gibt mir die Antwort: Frauen wünschen sich nichts sehnlicher, als im Bett des erfolgreichen Mannes zu landen und der Mann braucht immer wieder das Gefühl der Eroberung...

Die Vorabendserien zeigen selbstbewusste, kühle Blonde - aber auch hier ist die Autonomie nur Schein. Wahres Glück findet sich doch nur an der Seite des Traumprinzen.

Besuch bei der Freundin. Das Zimmer der 14jährigen Tochter: plakatiert mit der Boy-group Nr.1. Die Tochter einer frauenbewegten Kämpferin, die nur davon träumt in den Armen von Nick zu landen!

Das Fernsehprogramm. Die Europameisterschaft im Eiskunstlauf präsentiert den Mann schlechthin: weißes Hemd, Krawatte, Bügelfaltenhose, Anzugjacke - in seinen starken Armen ein Marilyn-Monroe-gleiches Wesen: blonde Locken, tiefes Dekolleté,  das den vollen Busen betont, Perlenkette ... Diener und Knicks... Das lächelnde Wesen, eingehüllt in rosa Tüll schmilzt auf dem Eis. Barbie hat es bis zur Europa-Meisterschaft gebracht. Platz 2!.

Die Nachrichten  präsentieren die neue Herren-Kollektion von Jil Sander -  es gibt offenbar auch Männer, die teilhaben wollen an der androgynen Evolution.

Erholung verspreche ich mir von einem Blick in die „Emma“ - dort begrüßt mich Sara, die Barbie-Puppe mit Tschador.

Wenn sich damit Profit machen lässt, wird in dieser Gesellschaft alles verkauft: multikulturelles, islamischer Fundamentalismus, Frauenemanzipation - oder eben auch Androgynität.

Kurz vor Mitternacht ein Blick  in  „Liebe Sünde“ . Nach dem ersten Beitrag  reicht meine Energie nur noch für den Aus-Schalter. Der neue Trend in den USA zum Preis von 10 000 Dollar: Ärztlich kontrollierte Penisverlängerung. Heute möglich - um immerhin 2 - 9 Zentimeter.

Im Nachhinein denke ich, das Thema hätte auch „Spurensuche“ lauten können.

Meine Zeit ist um. Ich wünsche mir, Ihnen  ein paar Hinweise auf Spuren gegeben zu haben, die Sie selber weiter verfolgen können - wenn Sie mögen.




Regina und Gerd Riepe, Du Schwarz - Ich Weiß- Bilder und Texte gegen den alltäglichen Rassismus. Peter Hammer Verlag 1992 (pht 72)

Thomas Theye (Hg.), Wir und die Wilden- Einblicke in eine kannibalische Beziehung. Reinbek 1885 (rororo7851)

u.a.: Helmut Fritz, Negerköpfe, Mohrenküsse. Der Wilde im Alltag. S.132- 142


  

© Meißner-Johannknecht * 2013



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